Bedarfe und Umsetzungswege des Entlassmanagements in ländlichen Räumen von Mecklenburg-Vorpommern: Ergebnisse aus Gruppendiskussionen mit multidisziplinären Akteur*innen im Gesundheitswesen
Jann Niklas Vogel 1Jaqueline Letzin 1
Hanna Hilgenhof 1
Ivonne Honekamp 2
Chiara Kleinschmidt 2
Anne Petereit 2
Stefan Schmidt 1
1 Hochschule Neubrandenburg, Fachbereich Gesundheit, Pflege, Management, Neubrandenburg, Deutschland
2 Hochschule Stralsund, Fakultät für Wirtschaft, Stralsund, Deutschland
Zusammenfassung
Hintergrund: In ländlichen Regionen ist das Entlassmanagement eine Herausforderung. Trotz der thematischen Relevanz liegen nur wenig Forschungsergebnisse zu Umsetzungswegen und Präferenzen der Beteiligten vor. In Mecklenburg-Vorpommern haben sich vier Runde Tische mit dem Ziel gebildet, die lokale Gesundheitsversorgung nachhaltig zu gestalten. In diesen regionalen Netzwerken arbeiten multidisziplinäre Akteur*innen an der Akut- und Nachsorge von Patient*innen zusammen. Der vorliegende Beitrag untersucht Umsetzungswege des Entlassmanagements in ländlichen Räumen von Mecklenburg-Vorpommern, analysiert Herausforderungen und identifiziert Präferenzen von Akteur*innen.
Methodik: Es wurden leitfadenbasierte Gruppendiskussionen an Runden Tischen in Demmin, Pasewalk und Ueckermünde durchgeführt. Die Auswertung erfolgte nach der inhaltlich strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse.
Ergebnisse: Es wurden drei Gruppendiskussionen mit insgesamt 30 Personen durchgeführt. Zentrale Herausforderungen im ländlichen Raum sind die Sicherung der Tagespflege, der Mangel an ausreichender und wohnortnaher Kurzzeitpflege, stationärer Langzeitpflege sowie Reha-Plätzen. Das führt dazu, dass Patient*innen teils länger im Krankenhaus verbleiben als notwendig oder in entfernte Nachsorgeeinrichtungen verlegt werden.
Diskussion und Schlussfolgerung: Ein zentraler Aspekt ist, traditionelle Denkweisen wie die strikte Trennung von Zuständigkeiten zu hinterfragen und gemeinsame Verantwortlichkeiten stärker in den Fokus zu rücken. Ziel ist es, Synergien zu schaffen und eine effizientere Versorgung zu ermöglichen.
Schlüsselwörter
Entlassmanagement, Überleitungsmanagement, Pflegeüberleitung, Versorgungsmanagement, Anschlussversorgung
1 Hintergrund
Das Entlassmanagement (EM) ist eine zielgerichtete und systematische Überleitung aus dem Krankenhaus in das häusliche Umfeld beziehungsweise in die ambulante oder stationäre Nachsorge [1]. Ziel ist es, eine nahtlose Fortsetzung einer medizinischen und pflegerischen Versorgung zu gewährleisten, gesundheitliche Komplikationen zu vermeiden und die Lebensqualität von Patient*innen zu verbessern. Das EM kann eine eigenständige Intervention sein [2], eine Unterstützung nach der Entlassung beinhalten [3], [4] oder in eine andere Maßnahme integriert sein [5], [6], [7]. Je nach medizinischem Fachbereich existieren verschiedene, individuell zugeschnittene EM-Interventionen. Das EM gewinnt an Bedeutung, da Gesundheitssysteme effiziente Versorgungsprozesse anstreben, die Patient*innensicherheit und -zufriedenheit verbessern sowie Kosten reduzieren. Seit den 1990er Jahren existieren in Deutschland Ansätze zur Entlassplanung [8]. Die Details des EM gemäß § 39 Abs. 1a SGB V wurden vom GKV-Spitzenverband, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft im Rahmenvertrag festgelegt, der am 1. Oktober 2017 in Kraft trat und seither mehrfach angepasst wurde [1]. Ziel ist eine nahtlose Weiterversorgung durch enge Zusammenarbeit zwischen stationären und ambulanten Einrichtungen sowie die Einbindung von Zugehörigen und Pflegeangeboten.
Besonders ländliche Räume stellen die Umsetzung eines bedarfsgerechten und effektiven EM vor Herausforderungen, da Versorgungsstrukturen und spezialisierte Einrichtungen häufig mit längeren Anfahrtswegen verbunden sind. (Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) definiert ländliche Räume als Gebiete mit einer niedrigen Bevölkerungsdichte von unter 150 Einwohner*innen pro Quadratkilometer, in denen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung in Städten mit weniger als 20.000 Einwohner*innen sowie in ländlichen Siedlungen wohnen.) Mit einer Bevölkerung von 70 Einwohner*innen pro Quadratkilometer weist das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern (MV) die niedrigste Bevölkerungsdichte in Deutschland auf [9]. Durch den Rückgang der Bevölkerungszahl seit 1990 um 15 Prozent [10] und die Verdopplung des Anteils der über 65-Jährigen [11] wird der Druck auf die Daseinsvorsorge erhöht. Die Gestaltung eines effektivem EM ist für MV relevant. Jedoch liegen aktuell nur begrenzte Forschungsergebnisse zu Umsetzungswegen und den Präferenzen von Beteiligten im ländlichen Raum vor.
Das Forschungsverbundprojekt NAHVERSORGT der Hochschulen Stralsund und Neubrandenburg nimmt sich dieser Problematik an, indem es die bestehende Praxis des EM am Beispiel von MV evaluiert und systematische Schlussfolgerungen für ländlich geprägte strukturschwache Räume zieht. Die vorliegende Studie widmet sich folgenden Fragestellungen:
- Wie erfolgt die Umsetzung des EM in den ländlichen Regionen von MV?
- Welche Bedarfe und Ressourcen haben gesundheitsberufliche Akteur*innen in Bezug auf das EM in ländlichen Regionen?
- Welche Maßnahmen haben sich im EM bewährt?
2 Methode
Es wurde ein qualitatives Forschungsdesign gewählt, um subjektive Erfahrungen von gesundheitsberuflichen Akteur*innen, die in den Prozess des EM eingebunden sind und an den Runden Tischen (RT) teilnehmen, sichtbar zu machen und konkrete Empfehlungen für das EM in ländlichen Regionen herauszuarbeiten. Das Studiendesign verfolgt einen partizipativen Ansatz und beteiligt explizit die für das EM zuständigen Akteur*innen in MV. Das Format der Gruppendiskussion (GD) dient dazu, Perspektiven und Meinungen zu einem Thema zu sammeln und zu vergleichen [12] sowie gemeinsame Lösungsansätze für komplexe Fragestellungen zu entwickeln [13]. Zur Strukturierung der GD wurde ein Diskussionsleitfaden konzipiert. Dieser greift Ergebnisse aus einem vorangegangenen Scoping Review (Petereit et al., im Review) auf und unterteilt sich in fünf Dimensionen (s. Tabelle 1 [Tab. 1]). Für jede Dimension wurden offene Fragen und Stichpunkte für Nachfragen formuliert, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten. Vor der Datenerhebung erfolgten Pretests; anschließend wurde der Leitfaden redaktionell überarbeitet. Seit 2019 wurden in vier ländlichen Gemeinden in MV mit jeweils unter 10.000 Einwohner*innen RT eingerichtet. Die Auswahl erfolgte im Rahmen der Strategiegruppe „Gesundes Altern“ des Kuratoriums Gesundheitswirtschaft MV. An jedem RT engagieren sich rund 15 Akteur*innen aus verschiedenen Berufsgruppen, die sich freiwillig zusammengeschlossen haben, um sektorenübergreifende Ansätze für eine verbesserte Gesundheitsversorgung vor Ort zu entwickeln. Die Herausforderungen des EM im ländlichen Raum waren bereits vor Einrichtung der RT bekannt und wurden früh als zentrales Thema aufgegriffen. Die Datenerhebung erfolgte von Juni bis Juli 2024 im Rahmen dieser seit 2019 bestehenden regionalen Netzwerke. Die Teilnehmenden wurden zunächst über die Forschungsintention, die Datenverarbeitung, Maßnahmen zur Sicherstellung der Pseudonymität sowie das Widerrufsrecht informiert. Die Teilnahme an der GD konnte jederzeit ohne Angabe von Gründen abgebrochen werden.
Tabelle 1: Dimensionen des Diskussionsleitfadens
Datenauswertung
Die Daten wurden pseudonymisiert und anschließend kategorienorientiert aufbereitet und ausgewertet. Es wurde die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse [14] angewandt, die ein deduktiv-induktives Vorgehen ermöglicht. Alle Schritte der Datenauswertung erfolgten elektronisch gestützt über die Software MAXQDA (Release 24.2.0). Die Auswertung erfolgte durch zwei Forschende, welche die Kodierungen und das Kategoriensystem gemeinsam abglichen (konsensuelles Kodieren).
3 Ergebnisse
Im Erhebungszeitraum wurden an drei RT in MV (Demmin, Pasewalk, Ueckermünde) GD durchgeführt, die im Durchschnitt 71,35 Minuten dauerten. Insgesamt nahmen 30 Personen an der Datenerhebung teil (s. Tabelle 2 [Tab. 2]). Alle Beiträge wurden in die Datenanalyse einbezogen. Im Rahmen der Datenauswertung wurden acht Oberkategorien (OK) mit insgesamt 56 Unterkategorien herausgearbeitet (s. Tabelle 3 [Tab. 3]). Im Folgenden werden die OK2 bis OK7 dargestellt, da sie die zentralen Themenfelder (s. Tabelle 3 [Tab. 3]) abbilden.
Tabelle 3: Hauptkategorien der Datenauswertung
OK2: Zusammenarbeit im EM
Im Rahmen des EM arbeiten die Teilnehmenden mit verschiedenen Berufsgruppen sowie nichtberuflichen Akteur*innen wie Nachbarschaftshelfenden und örtlichen Vereinigungen wie den Landfrauen zusammen. Die Intensität der Zusammenarbeit variiert je nach Tätigkeitsfeld und zielt im Kern darauf ab, die Gesundheitsversorgung sicherzustellen und besser zu organisieren. Daneben wird Zusammenarbeit auch genutzt, um mangelnde Handlungsbefugnisse zu kompensieren:
Die Zufriedenheit über interprofessionelle Zusammenarbeit variiert je nach Berufsgruppe. So berichten beruflich Pflegende einerseits über eine gute Zusammenarbeit mit dem HaffNet oder dem SAPV-Team, andererseits wird die Zusammenarbeit mit Reha-Kliniken als unzufriedenstellend empfunden.
OK3: Bedarfe im EM
In ländlichen Regionen haben Palliativpatient*innen, neurologische Patient*innen, Menschen mit Demenz und ältere Menschen aufgrund eines eingeschränkten Zugangs zu gesundheitlichen Versorgungsangeboten ein erhöhtes Risiko einer unzureichenden Versorgung. Diese Gruppen gelten generell als vulnerabel, wobei sich ihre Vulnerabilität durch strukturelle Versorgungsdefizite in ländlichen Regionen weiter verstärken kann. Es besteht ein hoher Bedarf an therapeutischen Leistungen:
Weiterhin besteht ein Bedarf an weiteren Reha-Plätzen, da Ressourcen bestehender Reha-Kliniken oftmals nicht ausreichen und häufig nicht wohnortnah verfügbar sind:
In Betreuungseinrichtungen von Menschen mit Demenz besteht ein erhöhter Personalbedarf, welcher aktuell nur teilweise gedeckt werden kann. In der Folge werden Betroffene in Pflegeeinrichtungen verlegt, welche nicht in ihrem Wohnumfeld liegen:
Es braucht leicht zugängliche Beratungsstellen zu Hilfsmitteln und Versorgungsmöglichkeiten sowie eine barrierefreie Infrastruktur, etwa im Nahverkehr und Wohnraum.
OK4 + OK6: Ressourcen und Best Practices
Für die Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum werden alle Akteur*innen (z.B. Gesundheitspersonal, Angehörige) als soziale und personale Ressource in Form einer sorgenden Gemeinschaft betrachtet, deren Ausprägung regional variiert. Zu den Ressourcen zählen zudem innovative Versorgungsmodelle wie Hausbesuche von Fach- und Zahnärzt*innen in Pflegeeinrichtungen sowie individuelle Beratungen durch spezialisierte Demenzcare oder Senior-Trainer*innen. Etablierte Netzwerke sind in ländlichen Regionen essentiell und gelten zugleich als Best Practice für das EM:
Ein weiteres erfolgreiches Beispiel ist das Ärzt*innennetzwerk HaffNet, dass eine Vernetzung der Ärzt*innen in der Region fördert und so eine koordinierte und umfassende medizinische Versorgung ermöglicht. Finanzielle Ressourcen spielen ebenfalls eine Rolle, wurden in den GD jedoch wenig genannt. Als materielle Ressource verfügt der ländliche Raum zunehmend über barrierefreie und altersgerechte Wohnungen. Darüber hinaus fördern integrierte Stadtentwicklungskonzepte eine ganzheitliche und nachhaltige Stadtplanung, indem sie Aspekte wie Wohnen, Verkehr, Umwelt und Soziales in einem Konzept zusammenführen.
OK5: Probleme
Zentrale Herausforderungen bilden die Sicherung der Tagespflege, der Mangel an wohnortnahen Kurzzeitpflegeplätzen sowie stationären Langzeitpflegeeinrichtungen und Reha-Kliniken. Dieser Mangel führt dazu, dass Patient*innen teils länger im Krankenhaus verbleiben als medizinisch notwendig oder in weit entfernte Nachsorgeeinrichtungen verlegt werden: „[…] wir haben jetzt aktuell Patienten, die liegen seit nem Dreivierteljahr auf der Station, weil wir keine Lösung finden.“ (H107, Pos. 70). Es liegt zudem ein Mangel an (Fach-)Ärzt*innen sowie therapeutischer Weiterbetreuung wie Physiotherapie und Ergotherapie vor: „[…] aber auch da haben wir große Probleme. Ergotherapie haben wir in unserem Bereich fast gar keine. Da haben wir ganz, ganz lange Wartelisten.“ (S105, Pos. 58). Darüber hinaus haben die Digitalisierung, gesetzliche Anforderungen sowie bürokratische Hürden die Prozesse im EM weiter verkompliziert.
Weiterhin besteht zwischen Nachbarschaftshelfenden und ambulanten Pflegediensten im Zusammenhang mit dem Entlastungsbeitrag von 125 Euro eine finanzielle Konkurrenz: „Aber oftmals sind diese 125 Euro, die hat der Pflegedienst schon. Und das ist das Problem.“ (T106, Pos. 143). Ein weiteres Problem betrifft die Nachhaltigkeit sowie die Inanspruchnahme von Ressourcen und Unterstützungsangeboten, was neben Finanzierungsproblemen auch auf mangelnde Transparenz zurückzuführen ist: „Dieser […] Rufbus, das ist eine tolle Sache, aber das wissen viele gar nicht, wie sie damit umgehen.“ (T106, Pos. 244). Im Gegensatz dazu übersteigt die Nachfrage nach Wohnraum in manchen Regionen das vorhandene Angebot: „Also wir haben […] 36 Wohnungen […] neu gebaut. Wir hatten dafür 120 Anträge, die wir gar nicht bedienen können.“ (H106, Pos. 30). Entsprechende Lücken im Wohnungsbau lassen sich unter anderem aufgrund aufwendiger Genehmigungsverfahren für Zuschüsse, Wartezeiten bei Handwerksbetrieben sowie Organisationskapazitäten der Betroffenen nicht kurzfristig schließen; Anpassungen in Altbauten sind oft nur eingeschränkt möglich. Schließlich tragen soziale Faktoren erheblich zu den Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung und im EM bei. Häufig wohnen Angehörige in weiter Entfernung, was ihre Möglichkeit zur Unterstützung erheblich einschränkt.
OK7: Lösungen und Lösungsvorschläge
„[…] die Bündelung der Struktur, die Analyse, was an Bereichen schon da ist, das sichtbar zu machen […]“ (S111, Pos. 107) bildet einen wesentlichen Ansatz, um die komplexen Herausforderungen der ländlichen Gesundheitsversorgung in MV zu handhaben und zu verbessern. Auf diese Weise können Synergien genutzt und Parallelstrukturen abgebaut werden. Für den ländlichen Raum sehen die Diskussionsteilnehmenden ein großes Potential für einen Informationsbus:
Zudem sollte frühzeitige Aufklärung, etwa zu den Themen Patient*innenverfügung, Vorsorgevollmacht, Pflegegrad und barrierefreier Wohnungsanpassung, erfolgen. Aus den Herausforderungen lässt sich ein hoher Bedarf an mobiler Gesundheitsversorgung, wie Hausbesuchen von Ärzt*innen oder therapeutischen Berufsgruppen, ableiten. Diesbezüglich könnten auch Spezialisierungen von Pflegefachkräften, wie Gemeindeschwestern, Community Health Nurses, ErwiN oder VERAH, zu einer Vermeidung von Versorgungslücken sowie einer besseren Schnittstellenarbeit beitragen. Digitale Versorgungsmodelle wie Telemedizin können den Zugang zur Gesundheitsversorgung verbessern und die Teilhabe an medizinischen Angeboten erleichtern.
4 Diskussion
Im Folgenden werden die Studienergebnisse anhand der eingangs genannten Fragestellungen betrachtet und kritisch diskutiert:
1. Wie erfolgt die Umsetzung des EM in den ländlichen Regionen von MV?
Die Umsetzung des EM in ländlichen Regionen MVs wird durch strukturelle Hürden erschwert. Es fehlen wohnortnahe Nachsorgeeinrichtungen, einschließlich Reha-Kliniken und Kurzzeitpflegeplätze sowie ausreichend Fachärzt*innen und Therapeut*innen, was vor allem vulnerable Gruppen benachteiligt. Ähnliche Herausforderungen bestehen in den USA, wo eine „Urban-Rural-Divide“ den Zugang zur Gesundheitsversorgung durch Fachkräftemangel, unzureichende Infrastruktur und begrenzte digitale Angebote einschränkt [15]. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie unterstreichen, dass der Zugang zu weiterführenden Versorgungsangeboten durch strukturelle Defizite eingeschränkt wird. In einigen ländlichen Regionen mildern Netzwerke und Alltagshilfen diese Defizite bereits ab. Regionale Konzepte zur besseren Vernetzung könnten Versorgungslücken schließen und Best Practices auf weniger entwickelte Regionen übertragen.
2. Welche Bedarfe und Ressourcen haben gesundheitsberufliche Akteur*innen in Bezug auf das EM in ländlichen Regionen?
Gesundheitsakteur*innen in ländlichen Regionen MVs fordern besser koordinierte und erreichbare Versorgungsangebote. Fachkräftemangel und strukturelle Engpässe erschweren die Versorgung. Hansen et al. untermauern diese Perspektive, indem sie auf die Herausforderungen in der Versorgung aufgrund des Fachkräftemangels und der hohen Arbeitslast in ländlichen Gebieten hinweisen [16]. Pohontsch et al. verweisen zudem auf die wichtige Rolle der Hausärzt*innen in ländlichen Gebieten, die sich nicht nur als medizinische Dienstleister, sondern als langfristige Begleiter der Patient*innen sehen [17]. Diese enge Beziehung kann eine wertvolle Ressource für das EM darstellen, indem sie die Bindung der Patient*innen an die Versorgung stärkt und potenziell die Kontinuität der Nachsorge sicherstellt. Um Personalstrukturen zu sichern, sind neue Finanzierungsmodelle und bedarfsgerechte Strukturen, etwa Kurzzeitpflegeplätze und spezialisierte Reha-Angebote, nötig. Parallelstrukturen sollten vermieden, vorhandene Ressourcen effizient genutzt und innovative Versorgungsformen wie Nachbarschaftshilfe gezielt ergänzt werden. Digitale Angebote und Telemedizin könnten die medizinische Betreuung verbessern. Dabei stellt die begrenzte Internet-Bandbreite, welche insbesondere in ländlichen Regionen MVs vorherrscht [18], eine Hürde dar.
3. Welche Maßnahmen haben sich im EM bewährt?
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass ein besserer Zugang zu spezialisierten Versorgungsangeboten, etwa wohnortnahe Therapien oder Rufbusse, sowie eine stärkere Koordination der Gesundheitsakteur*innen im EM besonders effektiv sind. Wie Hengel et al. aufzeigen, bestehen regionale Unterschiede in der Gesundheitsversorgung vor allem im Zugang und der Qualität der Versorgung, was auch für das EM relevant ist [19]. Lokale Netzwerke zur verbesserten Zusammenarbeit können den Entlassprozess optimieren. Besonders in ländlichen Gebieten erfordert der Mangel an Nachsorgeeinrichtungen eine engere Vernetzung und Koordination von Krankenhaus, Hausärzt*innen und ambulanten Diensten.
Limitationen und Implikationen
Die Studie orientierte sich an den Gütekriterien qualitativer Forschung nach Steinke [20], [21]. Zur Wahrung intersubjektiver Nachvollziehbarkeit erfolgte die Dokumentation der Datenauswertung über MAXQDA und die Inhaltsanalyse über zwei Forschende sowie unter Anwendung eines kodifizierten Verfahrens. Die empirische Verankerung [21] ist über das kodifizierende Verfahren, Bezug zum Scoping Review (Petereit et al., im Review) und damit zu vorherigen Forschungen, das deduktiv-induktive Vorgehen sowie die Ableitung von Erkenntnissen gewährleistet. Darüber hinaus sind die Abschnitte der durchgeführten Studie kohärent und die Studie als Gesamtkonstrukt relevant [21], da sie Einblicke in das EM in ländlichen Regionen ermöglicht.
Dennoch weist die Studie Limitationen auf. In der Stichprobe befanden sich nur Teilnehmende der RT aus MV. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass weitere GD mit gesundheitsberuflichen Akteur*innen zu anderen Erkenntnissen und Schwerpunktsetzungen geführt hätten. Auch die freiwillige Teilnahme an den RT und der GD könnte zu einer Verzerrung geführt haben, da insbesondere engagierte und motivierte Personen vertreten waren, die tendenziell eine aktivere Rolle im regionalen EM einnehmen. Die Auswahl der Teilnehmenden schränkt die Übertragbarkeit auf andere Regionen oder das allgemeine EM in Deutschland ein. Ursprünglich waren vier RT für die Datenerhebung vorgesehen, jedoch konnte an einem der RT aufgrund organisatorischer Herausforderungen keine GD realisiert werden. Auch bei den übrigen drei RT war die Beteiligung am Tag der Datenerhebung teilweise geringer als erwartet, sodass jeweils nur ein Teil der ursprünglich vorgesehenen Akteur*innen vertreten war. Der Diskussionsleitfaden wurde vom Projektteam erstellt und vom Expert*innenbeirat überprüft, um Verzerrungen zu minimieren. Dennoch könnten Fragestellungen, Körpersprache oder Reaktionen der diskussionsleitenden Person die Antworten beeinflussen [22].
Im Rahmen des Forschungsverbundprojektes bilden die Studienergebnisse die Grundlage für eine quantitative Krankenhausbefragung in MV sowie weiterer qualitativer Erhebungen. Ziel ist die Vertiefung der Erkenntnisse und die Entwicklung praxisnaher Handlungsempfehlungen für das EM in MV.
5 Schlussfolgerung
Die Studienergebnisse weisen darauf hin, dass das EM in den ländlichen Regionen MVs vor spezifischen Herausforderungen steht. Ein deutlicher Bedarf besteht an wohnortnahen Nachsorgungsangeboten wie Reha-Kliniken, Kurzzeitpflege sowie ausreichendem Fachpersonal, um eine lückenlose und zeitnahe Versorgung von Patient*innen zu gewährleisten. Die in den GD beschriebenen regionalen Defizite beeinträchtigen vor allem vulnerable Patient*innengruppen, wie Menschen mit Demenz, neurologisch Erkrankte und ältere Menschen. Zur Schließung dieser Lücken sind Versorgungsansätze wie mobile Dienste und flexible telemedizinische Angebote zentrale Maßnahmen, die den Zugang zur Gesundheitsversorgung erleichtern und bestehende Kapazitäten besser ausschöpfen können. Diese Ansätze stärken die sektorenübergreifende Zusammenarbeit und verbessern die regionale Koordination, wie die positiven Erfahrungen mit den RT in MV bereits zeigen. Langfristig wird empfohlen, Finanzierungsmöglichkeiten für innovative Versorgungsmodelle zu prüfen, um eine vernetzte, nachhaltige Versorgung in ländlichen Gebieten sicherzustellen.
Abkürzungsverzeichnis
- EM=Entlassmanagement
- GD=Gruppendiskussion
- MV=Mecklenburg-Vorpommern
- OK=Oberkategorie
- RT=Runde Tische
Anmerkungen
Danksagung
Wir bedanken uns herzlich bei den Akteur*innen der Runden Tische für ihre Teilnahme an den freiwilligen Gruppendiskussionen.
Förderung
Diese Arbeit ist Teil des Verbundprojektes „NAHVERSORGT – Na©hversorgt in der Region“. Das dieser Veröffentlichung zugrundeliegende Projekt wurde mit Mitteln des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss unter dem Förderkennzeichen 01VSF23038 gefördert.
Ethikvotum
Für die vorliegende Studie liegt ein positives Ethikvotum durch die Ethikkommission der Hochschule Neubrandenburg vor (Reg.-Nr.: HSNB/216/24).
Interessenkonflikte
Die Autor*innen erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
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