[Serendipität in der medizinischen Ausbildung]
Sigrid Harendza 11 Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, III. Medizinische Klinik, Hamburg, Deutschland
Leitartikel
Hätte Sir Alexander Fleming seine durch einen Pilz zerstörten Bakterienkulturen als missglücktes Experiment einfach weggeworfen und nicht sein Interesse auf die Frage gelenkt, warum das Bakteriumwachstum gehemmt wurde, wäre Penicillin vermutlich zu diesem Zeitpunkt nicht entdeckt worden [1]. Was für eine glückliche Fügung, etwas zufällig zu beobachten, das sich als unerwartete Entdeckung erweist! Zu diesem Grundprinzip der Serendipität gehören ganz wesentlich auch die Bereitschaft, das Unerwartete wahrzunehmen und bewusst zu nutzen. Serendipität war ebenfalls im Spiel, als bei der Untersuchung von Senfgas-exponierten Soldaten eine Reduktion der Leukozyten beobachtet wurde, was einige Jahre später zur Zulassung von Senfgas als erster Chemotherapie führte [2]. Auch in der ärztlichen Weiterbildung wird Serendipität als wichtiger Aspekt für die professionelle Entwicklung beschrieben, insbesondere, wenn man zufällig auf die „richtigen“ Vorbilder und Mentor*innen trifft [3], [4], [5]. Ebenso wurde für den Beginn einer Karriere im Feld der medizinischen Ausbildung im Jahr 2015 in einer qualitativen Studie Serendipität als wesentlicher Faktor identifiziert [6]. Serendipität als Prinzip zu kennen und damit arbeiten zu können, scheint also in verschiedenen Bereichen der medizinischen Aus- und Weiterbildung von Bedeutung zu sein. Doch wie lassen sich Achtsamkeit, Offenheit und eine gewisse Geistesgegenwart, die die Bedingungen für Serendipität sind, nutzen, um unerwartete Entdeckungen zu machen?
In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten wurden verbindliche curriculare Strukturen etabliert, um eine möglichst einheitliche Qualität der Aus- und Weiterbildung zu gewährleisten und den Lernenden inhaltliche Orientierung für den Erwerb von Wissen, Fertigkeiten und Haltungen zu bieten. Serendipität, die ebenfalls gefördert werden kann und trainierbar ist [7], war dabei zunächst weniger im Zentrum der Aktivitäten. Im Bereich der kontinuierlichen berufsbegleitenden Fortbildung (CME) wird inzwischen sogar kritisiert, dass ein Fokus auf verpflichtenden Fortbildungsaktivitäten einen Verlust an Serendipität bedeuten könnte [8]. Vielleicht ist es also an der Zeit, einen Blick darauf zu werfen, ob Serendipität als wichtiges Element ärztlichen Arbeitens in die Aus- und Weiterbildung integriert werden könnte. Aus Studien in nicht medizinischen Bereichen ist bekannt, dass die gezielte Gestaltung eines Campus [9] und das Arbeiten in heterogenen Teams verbunden mit einer Kultur der Neugier und Experimentierfreude Serendipität fördern kann [10]. Im Medizinstudium finden sich bereits interessante Ansätze in der Realisierung von Lehrgebäuden sowie im problemorientierten und im interprofessionellen Lernen, die spezifisch zur Förderung von Serendipität genutzt werden können. Eine weitere Möglichkeit zur Unterstützung von Serendipität ist das Erlernen, wie man in geeigneter Weise Informationen sammelt [11]. Diese Fähigkeit ist im medizinischen Bereich sowohl für klinische Denkprozesse als auch für wissenschaftliches Arbeiten relevant. Perspektivwechsel und Kreativitätsübungen, wie sie in der medizinischen Aus- und Weiterbildung bereits mit anderen Lernzielen in Form einer Auseinandersetzung mit Kunst vorkommen [12], [13], sind ebenfalls geeignet, Serendipität zu fördern [14].
In dieser Ausgabe beschreiben Schwaab et al. [15] sowie Endres et al. [16] neu etablierte Wahlpflichtkurse. Solche auszuwählenden Angebote sind vermutlich für die Studierenden bei entsprechender Neugier gut geeignet, um unerwartete Entdeckungen zu machen. In einem verpflichtenden Wahlfach, wie von Scherg et al. dargestellt [17], kann dies vielleicht ebenso der Fall sein. Auch Bedarfs- oder Motivationsanalysen bei Lehrenden oder Studierenden, wie sie in dieser Ausgabe von Hettkamp et al. [18], Rahn et al. [19] und de la Rosa et al. [20] aufgezeigt werden, können einen ersten Schritt darstellen um Gelegenheiten zu identifizieren, in denen Unerwartetes wahrgenommen werden kann. Noch weitere interessante Themen zur Lehre in den verschiedenen Gesundheitsberufen hält diese Ausgabe bereit. Die Entdeckung des Unerwarteten sei an dieser Stelle der Serendipität der geneigten Lesenden überlassen.
ORCID der Autorin
Sigrid Harendza: [0000-0002-7920-8431]
Interessenkonflikt
Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.
Literatur
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