[„Es wäre schön, wenn der Einsatz von der Uni mehr gewürdigt werden würde“ – Medizinstudierende und ihre Lern- und Arbeitserfahrungen als Mitversorgende in der Pandemie]
Christian Scheffer 1Hagen Sjard Bachmann 2
Beate Stock-Schröer 3
Arndt Büssing 4
1 Universität Witten Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Integriertes Begleitstudium Anthroposophische Medizin, Witten, Deutschland
2 Universität Witten Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Lehrstuhl für Pharmakologie und Toxikologie, Zentrum für Biomedizinische Ausbildung und Forschung (ZBAF), Witten, Deutschland
3 Universität Witten Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Interprofessionelles Graduiertenkolleg Integrative Medizin und Gesundheitswissenschaften IGIM, Witten, Deutschland
4 Universität Witten Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Professur für Lebensqualität, Spiritualität und Coping, Witten, Deutschland
Zusammenfassung
Einleitung: Während der COVID-19-Pandemie beteiligten sich viele Medizinstudierende aktiv in der Gesundheitsversorgung. Mit dieser Querschnittsbefragung wurde die Arbeits- und Lernerfahrungen der Teilnehmenden erfasst.
Methodik: Während des ersten Lockdowns (Mai/Juni 2020) führten wir eine bundesweite Onlinebefragung bei Medizinstudierenden durch, die sich an Pandemie-Einsätzen beteiligten.
Ergebnisse: Es beteiligten sich 381 im Einsatz befindliche Medizinstudierende an der Befragung. Die häufigsten Einsatzorte waren Krankenhäuser (60%), gefolgte von ambulanter Versorgung (21%) und dem öffentlichen Gesundheitsdienst (18%), die Aufgaben beinhalteten insbesondere pflegerische Tätigkeiten, Blutentnahmen, Patientengespräche und Abstrichentnahmen.
Die meisten Studierenden fühlten sich gut integriert. Belastung und Überforderung wurde in den Krankenhäusern höher erlebt.
Die höchsten Lerngewinne wurden in den Bereichen Zusammenarbeit, Kommunikation, Gesundheitssystemwissen, praktische Fähigkeiten, Einblicken in den medizinischen Alltag und Krisenmanagement erfahren.
In den Freitextantworten formulierten viele Kritik am Gesundheitssystem, insbesondere an der Ökonomisierung, an bürokratischen Prozessen und an hierarchischen Strukturen. Positive Rückmeldungen betrafen die Wertschätzung der Pflege.
Viele Studierende vermissten Unterstützung seitens der Fakultät. Für die Zukunft wünschen sich viele mehr Praxis und verantwortliche Tätigkeiten in der Gesundheitsversorgung.
80% der Teilnehmenden würden für einen solchen Einsatz wieder zu Verfügung stehen.
Schlussfolgerung: Die Integration der Studierenden kann als ein Erfolg angesehen werden. Viele erlebten dabei Lernfortschritte in wesentlichen Kompetenzfeldern und wünschen sich mehr strukturierte Mitarbeit in der Gesundheitsversorgung.
Schlüsselwörter
Lernen am Arbeitsplatz, COVID-19, Medizinstudenten im Grundstudium, Bildung mit Mehrwert, aktive Beteiligung der Studenten, Zusammenarbeit, Service Lernen
1. Einleitung
In der COVID-19-Pandemie war die Gesundheitsversorgung in außergewöhnlichem Maße herausgefordert, in kurzer Zeit in vielen Bereichen umfassende Veränderungen zu realisieren, um die weitere Ausbreitung der Infektion einzudämmen und zugleich die Erkrankten zu versorgen. In Vorbereitung auf die erste Welle im Frühjahr 2020 lag der Fokus in Deutschland darauf, mehr Intensivbetten bereitzustellen, planbare Eingriffe im Krankenhaus zu verschieben sowie die Arbeitsfähigkeit des Krankenhauspersonals zu sichern [1]. Der damalige Bundesgesundheitsminister Spahn forderte in diesem Zusammenhang auf, auch Medizinstudierende in der Gesundheitsversorgung einzusetzen.
Während sich viele Mitarbeitende in den Gesundheitseinrichtungen auf die Ankunft der ersten Welle und auf außergewöhnliche Arbeitsbelastungen vorbereiteten, befanden sich die Medizinstudierenden in einer entgegengesetzten Situation. Nach Ausrufen der Pandemie durch die WHO wurden weltweit die sozialen Kontakte eingeschränkt und beispielsweise Präsenzvorlesungen und klinische Praktika eingestellt, sodass viele Studierende unterbeschäftigt waren und den Wunsch nach sinnvoller Mitwirkung äußerten [2].
In dieser Situation entschieden zahlreiche Medizinstudierende, sich an der Bewältigung der Pandemie zu beteiligen und an verschiedenen Einrichtungen des Gesundheitswesens mitzuwirken. Im Rahmen ehrenamtlich organisierter Unterstützung (Medis-vs-COVID-19) meldetet sich innerhalb weniger Wochen in Deutschland etwa 20.000 Medizinstudierende um sich an der Bewältigung der Pandemie zu beteiligen [3], [4]. Daneben waren viele Studierende auch über lokale Organisationen tätig, andere weiteten ihre nebenberufliche Tätigkeit in Krankenhäusern aus.
Die Studierenden waren dabei vor allem altruistisch motiviert, das Gesundheitspersonal zu unterstützen, aber auch daran interessiert, ihr eher theoretisches Wissen zur Verbesserung der praktischen Fähigkeiten anzuwenden [5].
Der Einsatz von Medizinstudierenden in der Bewältigung der Pandemie stellte in mehrfacher Hinsicht ein Novum dar:
- Traditionell werden Medizinstudierende nicht als eigenständige Arbeitskräfte im Gesundheitswesen eingesetzt. Zwar stellt die Teilhabe in der Gesundheitsversorgung z. B. in Famulaturen oder im Praktischen Jahr einen wichtigen Teil der Ausbildung dar, jedoch werden die Studierenden hier v. a. als Lernende und nicht als Mitarbeitende angesehen
- Der Einsatz erfolgte in kurzer Zeit ohne viel Vorbereitungszeit und in einer dynamischen Situation. Vielerorts wurden Bereiche erweitert (z. B. Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeiten) bzw. neu aufgebaut (Abstrichzentren etc.).
- Ducht die Mitarbeit erlebten die Studierenden die Auswirkungen der Pandemie und ihre Bekämpfung aus nächster Nähe mit, inklusive der damit verbundenen Unsicherheiten und Schwierigkeiten.
Obgleich es naheliegt, in einer Ausnahmesituation wie einer Pandemie auch auf Medizinstudierende als flexible und altersbedingt vergleichsweise ungefährdete Arbeitskräfte zurückzugreifen, stellen sich hier zugleich relevante ethische Fragestellungen. So sind die meisten Studierenden nicht auf einen solchen Einsatz vorbereitet und haben möglicherweise wenig medizinisches Vorwissen über das Vorgehen in der Pandemie. Es wurde daher u.a. Hygieneschulungen und angemessene Supervision für die teilnehmenden Studierenden gefordert [6]. Zudem kann es in einem solchen Einsatz zu belastenden Erlebnissen kommen, für die ggf. spezifische Unterstützung in der Verarbeitung sinnvoll wäre.
Ziel der vorliegenden Studie war es, herauszufinden, wie die Studierenden ihre Einsätze erlebten, insbesondere wie sie die Integration als Mitarbeitende erfuhren und inwieweit sie den Einsatz als lehrreich für ihren beruflichen Weg empfanden.
2. Methode
Wir führten eine Online-Querschnittsbefragung unter Medizinstudierenden während der ersten Welle der Corona-Pandemie unmittelbar nach dem ersten Lockdown vom 29. Mai bis 18. Juni 2020 durch. Die Rekrutierung erfolgte über E-Mail-Verteiler der medizinischen Fachschaften und der medizinischen Fakultäten in Deutschland, die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland und über Facebook-Gruppen wie z. B. Medis-vs.-COVID-19. Nach Bestätigung der Einverständniserklärung konnten die Studierenden den anonymisierten Fragebogen ausfüllen (siehe Anhang 1 [Anh. 1]). Sie konnten jederzeit den Fragebogen beenden (siehe Anhang 1 [Anh. 1]), konnten die eigenen Antworten einsehen und ändern. Es wurden keine Incentives angeboten. Ein positives Votum der Ethikkommission der Universität Witten/Herdecke lag vor (#106/2020).
Die Befragung umfasste verschiedene standardisierte Fragebögen zu psychosozialen Fragestellungen wie Motivation, zur Stresswahrnehmung und Wohlbefinden, deren Ergebnisse in einer anderen Publikation dargestellt werden [5]. Entsprechend der Fragestellung wurden für diese Publikation nur die Fragebögen der im Einsatz befindlichen Medizinstudierenden ausgewertet.
Der Fragebogen enthält neben Items zu soziodemographischen Aspekten auch einsatzbezogene Fragen (Arbeitsbereiche und Dauer), sowie Items zum Belastungserleben (4 Items, Cronbachs alpha=0,77), Überforderungserleben (3 Items, Cronbachs alpha=0,69), Defiziterleben (3 Items, Cronbachs alpha=0,64) und Wertschätzung (3 Items, Cronbachs alpha=0,73), die auf einer 5-stufigen Likert-Skala bewertet wurden.
Ein weiterer Teil der Fragen befasst sich mit den Lernerfahrungen der Studierenden, die in Anlehnung an die CanMEDS-Rollen [7] in einem iterativen kooperativen Prozess entwickelt wurden. Auch diese vordefinierten Fähigkeiten wurden auf einer Likert-Skala von 0 (trifft nicht zu) bis 4 (trifft voll zu) bewertet.
SPSS 28.0 wurde für die statistischen Analysen verwendet. Die Gruppen wurden mittels ANOVA verglichen. Die Effektgrößen wurden mit Eta2 quantifiziert.
Es wurden außerdem zwei Freitextfragen gestellt, die sich auf weitere Lernbereiche und auf die Wünsche für das zukünftige Studium beziehen. Die Freitextaussagen wurden durch Kodierung und Bildung von Haupt- und Unterkategorien durch zwei studentische und zwei wissenschaftliche Mitglieder der Arbeitsgruppe unabhängig voneinander nach den Verfahren der Qualitativen Inhaltsanalyse analysiert [6] und in einem iterativen Prozess zusammengeführt. Für die qualitative Analyse wurde MAXQDA 11 (VERBI Software, 2019) verwendet.
3. Ergebnisse
3.1. Teilnehmende und Einsatzbereiche
Es beteiligten sich 731 Medizinstudierende aus allen Bundesländern mit medizinischen Fakultäten an der Befragung (19% Hannover, 15% Aachen, 9% Gießen, 7% Münster, 5% Berlin, 5% München, 40% andere Fakultäten). Von diesen waren 381 (52%) im Einsatz (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).
Tabelle 1: Beschreibung der Teilnehmenden (n=731; im Einsatz: 381)
Die Arbeits- und Aufgabenbereiche der Studierenden sind in Tabelle 2 [Tab. 2] dargestellt. 89% der Studierenden gaben an, eine Art von Honorar zu erhalten, 6 % erhielten nichts, 5% erhielten Mahlzeiten und 1% wurden die Reisekosten erstattet.
Tabelle 2: Arbeitsbereiche und Aufgabenbereiche der im Einsatz befindlichen (n=381)
3.2. Unterstützung am Arbeitsplatz
68% erhielten eine einführende Schulung zu Beginn der Tätigkeit, 1% berichteten über regelmäßige Schulungen während der ganzen Einsatzzeit; 17% erhielten Materialien zur eigenverantwortlichen Aneignung. Gespräche zur Reflexion über den Einsatz fanden v. a. in informellem Rahmen statt: bei 72% mit Mitarbeiter*innen im Einsatz, bei 71% mit Kommiliton*innen, bei 80% mit Freund*innen, Familie, Partner*in und 3% nutzten professionelle Gesprächsangebote.
3.3. Erfahrungen im Einsatz: Arbeitsbelastung, Überforderung, Defiziterleben und Wertschätzung
17,6% der Studierenden gaben an unter Zeitdruck zu leiden, 26,3% erlebten eine deutliche körperliche Belastung, 18,6% eine psychische Belastung. Eine Überforderung durch fehlende medizinische Vorkenntnisse war selten (5,5%), durch fehlende praktische Erfahrungen etwas häufiger (13,2%). 22,3% fühlten sich durch persönliche Schicksale der Patient*innen betroffen. Nicht selten wurde Personalmangel erlebt (35,9%) und gute Kommunikationsstrukturen vermisst (35,4%), teilweise war auch der Tätigkeitsbereich unklar (28,5%). Eine geringere Anzahl fühlte sich nutzlos (10,6%) bzw. als billige Arbeitskraft missbraucht (16,9%).
69,5% fühlten sich als Mitarbeitende ernst genommen (bei weiteren 19,2% teilweise) und 67,5% konnten sich mit Ideen und Anregungen am Arbeitsplatz einbringen, die allermeisten zumindest Fragen einbringen (86%).
Insgesamt wurden Arbeitsbelastung, Überforderung und Defiziterleben eher gering eingeschätzt und die Wertschätzung moderat (siehe Tabelle 3 [Tab. 3]). Schwache geschlechts-assoziierte Unterschiede gab es nur für das Überforderungserleben, das bei Männern geringer als bei Frauen war. Ob die Studierenden in den vorklinischen oder klinischen Semestern ihres Studiums waren, hatte für die Erfahrungen am Arbeitsplatz keine Bedeutung. Bedeutsamer war der Einsatzort: Wer in der stationären Versorgung eingesetzt wurde, hatte ein größeres Belastungs- und Überforderungserleben. Relevante Unterschiede für ein Defiziterleben fanden sich nicht. Die Wertschätzung wurde vergleichsweise hoch erlebt.
Tabelle 3: Erleben während des Einsatzes in Bezug zum Einsatzort, dem Geschlecht und dem Semester der Studierenden
3.4. Lerngewinne
Zusammenarbeit wurde über alle Einsatzorte hinweg als wesentlicher Lernzuwachs erlebt, in Krankenhäuser hatten zudem praktische Fertigkeiten und medizinische Routine hohe Zustimmung, während dies im öffentlichen Gesundheitsdienst v. a. in Bezug auf Krisenmanagement, Kommunikation und Gesundheitssystemwissen der Fall war.
Im stationären wie auch im ambulanten Einsatz wurde eine hohe Bestätigung für den ärztlichen Beruf beschrieben, etwas geringer im öffentlichen Gesundheitsdienst. Über alle Einsatzbereiche hinweg bestand eine hohe Bereitschaft, sich bei Bedarf erneut für einen solchen Einsatz zu melden (siehe Tabelle 4 [Tab. 4]).
Tabelle 4: Subjektiver Lerngewinn in Bezug auf die Studienphase und den Einsatzbereich
3.5. Freitextantworten
Die qualitative Analyse der Freitextantworten zu den weiteren Lernbereichen zeigte, dass sich diese vier Kategorien zuordnen lassen, siehe Anhang 2 [Anh. 2] und Tabelle 5 [Tab. 5].
Tabelle 5: Qualitative Analyse der Freitexte zum zukünftigen Studium
3.5.1. Das Gesundheitssystem
Die Studierenden beschreiben Einblicke in das Gesundheitssystem und in die Abläufe verschiedener Einrichtungen. Es werden bürokratische und unflexible Prozesse im Frageöffentlichen Gesundheitsdienst beklagt sowie eine mangelnde Zusammenarbeit der verschiedenen Akteur*innen des Gesundheitssystems. Häufiger wird die starke Ökonomisierung in den Krankenhäusern kritisiert. Auch die Sorge um die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems in Deutschland kommt mehrfach zum Ausdruck.
3.5.2. Mitarbeit im Versorgungsteams
Die Studierenden beschreiben ihre vielfältigen Erfahrungen und Lernfortschritte in der Mitarbeit vor Ort. Dazu gehören der Erwerb praktischer Fertigkeiten und impliziten Wissens über Arbeitsabläufe und Dokumentationsaufgaben in den jeweiligen Bereichen.
In der Zusammenarbeit werden hierarchische Strukturen und interprofessionelle Konflikte als hinderlich erlebt, während respektvolle Zusammenarbeit und Arbeiten auf Augenhöhe als förderlich beschrieben werden. Mehrfach kommt die Wertschätzung für die Tätigkeit der Pflege zum Ausdruck. Kommunikative Fähigkeiten werden häufig als Lernbereiche erwähnt wie auch das Vorgehen in Krisen und das Verhalten in Ausnahmesituationen.
3.5.3. Selbsterfahrung und Selbstentwicklung
Mehrere Studierende beschreiben, dass sie durch die Arbeit an ihre Grenzen kamen und dabei auch Selbstfürsorge erlernen mussten. Häufiger war auch die Rückmeldung, dass sie lernen Krisen entspannter und nüchterner zu begegnen. Die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen in Ausnahmesituationen stellt ein wichtiges Thema dar. Der Einsatz wird als motivierend und sinnstiftend für das Studium charakterisiert.
3.5.4. Unterstützung des Einsatzes
In einigen Kommentaren beklagen sich die Studierenden über uneinheitliche Regelungen ihrer Universitäten, wie Studium und Prüfungen während der Pandemie ablaufen sollten. Mehrfach wird die Enttäuschung geäußert, dass freiwilliges Engagement nicht belohnt wurde, sondern zu Nachteilen führte.
Die Antworten zu Wünschen für das zukünftige Studium lassen sich in zwei Kategorien fassen:
3.5.5. Mehr verantwortliche Einbindung in die Praxis
Die mit Abstand am häufigsten genannten Antworten beziehen sich auf den Wunsch nach mehr Praxisnähe im Studium. Dieser speist sich aus den erlebten eigenen Defiziten in den verschiedenen Versorgungsfeldern sowie die erfahrenen Vorzüge einer Einbindung in Versorgungsteams mit konkreter Verantwortlichkeit und interprofessioneller Zusammenarbeit.
3.5.6. Konkrete curriculare Vorschläge
Aufgrund der Erfahrungen in ihrem Pandemieeinsatz machen die Studierenden konkrete Vorschläge, besser auf die jeweiligen Tätigkeiten vorbereitet zu werden bzw. solche Inhalte vermehrt in das Studium aufzunehmen. Dazu gehören neben Katastrophenmanagement, Intensivmedizin und öffentlichem Gesundheitsdienst auch die Vorbereitung auf herausfordernde Situationen.
4. Diskussion
Die Situation der Medizinstudierenden in Deutschland während der Pandemie wurde mehrfach untersucht. So wurden negative Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit und die Lebensqualität von Medizinstudierenden beschrieben [6] sowie vermehrte Stressbelastung durch soziale Isolation und Unsicherheiten hinsichtlich des zukünftigen Studiums [8]. Die Umstellung auf digitales Lernen wurde seitens der Studierenden geschätzt [9], konnte aber wesentliche Aspekte wie soziale Kontakte zu Mitstudierenden und Lehrenden sowie die Übungen in praktischen Fähigkeiten nicht ausgleichen [2], [10], [11].
Zur Mitarbeit der Studierenden in der Pandemie in Deutschland ist dagegen vergleichsweise wenig bekannt. In einer Onlinebefragung, die kurz vor unserer Befragung (April/Mai 2020) stattfand [12], zeigten sich die im Einsatz befindlichen Medizinstudierenden zufrieden mit ihrer Tätigkeit und der erfahrenen Supervision, die genaueren Arbeitserfahrungen sowie die erlebten Lernfortschritte sind bisher jedoch noch nicht untersucht worden.
An unserer Befragung beteiligten sich Medizinstudierende aus ganz Deutschland, das beschriebene Durchschnittalter und das Überwiegen des weiblichen Geschlechts sind typisch für das Medizinstudium. Mehr als ein Drittel der im Einsatz befindlichen hatten eine Vorausbildung in einem Gesundheitsberuf, was sicherlich die Hemmschwelle zur Mitarbeit senkte. Häufigster Einsatzort war das Krankenhaus, daneben der öffentliche Gesundheitsdienst, der in dieser Zeit massiv ausgebaut wurde. Insgesamt zeigt sich hier ein wesentlicher Vorteil der Studierenden, flexibel in verschiedenen Bereichen einsetzbar zu sein.
Die zum Teil hohe erlebte körperliche, zeitliche und psychische Belastung war für solche Einsätze zu erwarten und zeigt, dass den Medizinstudierenden bei ihrem Einsatz einiges abverlangt wurde. Auch die Betroffenheit in der Begegnung mit Patientenschicksalen war relevant, wobei laut der Freitextantworten nicht nur die Auswirkungen der COVID-19-Erkrankungen, sondern auch die erlebten sozialen Restriktionen betroffen machten, wenn z. B. Angehörige ihre kranken Verwandten nicht besuchen durften. Insgesamt wäre es hier sicherlich hilfreich gewesen, vermehrt Reflexionsmöglichkeiten und psychologischen Support anzubieten, um die erlebten Belastungen zu verarbeiten. Eine solche strukturierte Unterstützung ist wesentlich, nicht nur für die Stressreduktion der Teilnehmenden, sondern auch um den Umgang mit Ambiguität, Unsicherheit und Komplexität zu erlernen und die persönliche Entwicklung zu fördern [13], [14].
Als wesentliche Bedingung für einen Einsatz von Studierenden in der Gesundheitsversorgung sind angemessene Aufgabenfelder, vorbereitende Schulungen und eine professionelle Einbindung mit entsprechender Supervision anzusehen. Unseren Ergebnissen zufolge wurden die meisten Studierenden in ihren Einsätzen geschult. Sie fühlten sich selten überfordert oder nutzlos, zum Teil war der Arbeitsbereich unklar, was sich aber möglicherweise im Verlauf besserte [15].
Eine zu beachtende Gefahr liegt darin, dass Studierende in solchen Situationen als billige Arbeitskraft missbraucht werden, was von jedem sechsten Studierenden rückgemeldet wurde. Auch in den Freitextantworten taucht dieses Thema auf, wenn Studierende sich als zuunterst in der Hierarchie erleben und den Eindruck bekommen, dass sie nicht für eine unerwartete Notlage, sondern zur Kompensation struktureller Mängel eingesetzt werden. Die meisten Studierenden jedoch fühlten sich als Mitarbeitende ernst genommen, die auch ihre Fragen und Anregungen einbringen konnten.
„COVID-19 zeigt uns unsere Probleme wie durch ein Brennglas“. Dieses häufig gebrauchte Bonmot lässt sich auch auf die Sicht der Studierenden auf das Gesundheitssystem anwenden. Die fehlende Flexibilität, bürokratische Prozesse, aber auch eine starke Ökonomisierung und eine unpersönliche Atmosphäre gerade in größeren Krankenhäusern wurde von den Studierenden kritisch angemerkt. Diese zum Teil fundamentale Kritik deckt sich mit Voruntersuchungen, wo die zunehmende Ökonomisierung in der Medizin eine hohe Belastung für Studierende darstellte [16].
International wie national bezogen sich viele Initiativen der letzten Jahre im Medizinstudium darauf, neben der traditionellen fachlichen Expertise weitere für den ärztlichen Beruf wesentliche Kompetenzbereiche zu erfassen und strukturiert in die ärztliche Ausbildung zu integrieren. Basierend auf dem Modell der Canmeds-Rollen werden z. B. Kommunikation, Zusammenarbeit, Gesundheitsfürsprache und Professionalität integriert. Unsere Befragung legt nahe, dass die Studierenden im Rahmen ihres Einsatzes in diesen Bereichen wesentliche Lernerfahrungen sammelten. Ähnliche Erfahrungen wurden aus den Niederlanden bestätigt [17]. Eine irische Studie [18] verweist ebenfalls auf Kommunikation, Teamarbeit, Mitgefühl und Altruismus als wesentliche Lernbereiche, eine weitere qualitative Studie aus Heidelberg [14] verweist auf die Bedeutung des Einsatzes für die professionelle Identitätsbildung.
In den qualitativen Aussagen wird deutlich, dass sich die Teilnehmenden mehr Flexibilität und Unterstützung seitens der Fakultät gewünscht hätten. Viele artikulierten zudem ihren Wunsch nach mehr Praxisnähe im Studium, indem sie verantwortlich in Teams mitarbeiten. Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob es nicht Wege gibt, Medizinstudierende regulär so in die Versorgung zu integrieren, dass sie einerseits lernen und andererseits einen Beitrag zur Versorgung leisten. Solches fand nicht nur in der Sondersituation der Pandemie statt, sondern auch in anderen Mangelsituationen, z. B. in der Versorgung von Obdachlosen oder im Katstrophenschutz. Von den USA ausgehend hat sich eine internationale Bewegung für „Value-added Education“ [19], [20], [21] formiert, in der die Ausbildung zugleich einen Mehrwert für die Versorgung generiert. In diesem Sinne können auch die Corona-Einsätze der Medizinstudierenden als eine Zukunftsperspektive verstanden werden, in der sich Studierende an der Gesundheitsversorgung beteiligen und dabei wesentliche Aspekte ihres ärztlichen Entwicklungsweges erlernen.
4.1. Limitationen
Onlinebefragungen bieten den Vorteil, dass mit relativ wenig Aufwand in kurzer Zeit eine hohe Anzahl von Menschen befragt werden können. Ein wesentlicher Nachteil liegt in der meist niedrigen Responderrate. Es ist unbekannt, wieviel der 108.000 in Deutschland eingeschriebenen Medizinstudierenden sich an Pandemieeinsätzen beteiligten. Nimmt man Daten des bundesweiten Netzwerkes von Medis-vs-COVID-19 mit mehr als 20.000 Studierenden, von denen mehr als 10.000 tatsächlich im Einsatz waren, zum Vergleich mit unserer Studie, so findet sich kein wesentlicher Unterschied bzgl. Geschlecht, Alter, und Semester. Auch die Vertretung der allermeisten Bundesländer spricht für die Repräsentativität der Daten.
Bei der Bewertung der Befragungsergebnisse ist außerdem zu berücksichtigen, dass es sich um Rückmeldungen der Studierenden handelt und nicht um objektive Prüfungsergebnisse oder externe Einschätzungen.
5. Schlussfolgerung
Eine umfassende Krise wie eine Pandemie geht mit hohem Veränderungsdruck einher. Sie birgt damit auch die Chance, neue Wege zu gehen und grundlegende Veränderungen anzustoßen. In Bezug auf das Studium hat insbesondere das Online-Lernen durch die Pandemie einen deutlichen Schub erfahren. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass es ein weiteres Entwicklungspotential gibt, nämlich Medizinstudierende so in die Versorgung zu integrieren, dass sie dabei einen wichtigen Beitrag für die Gesundheitsversorgung leisten und zugleich wesentliche Aspekte für ihren zukünftigen Beruf erlernen. Aus Sicht der Medizinstudierenden, die an unserer Studie teilgenommen haben, sind Wertschätzung, flexible Studiengestaltung und eine angemessene Lernunterstützung wesentlich für das Gelingen einer studentischen Mitwirkung in der Gesundheitsversorgung. Wie ein solches „Lernen durch Mitversorgen“ im Medizinstudium entwickelt werden könnte, muss durch weitere Studien erforscht werden.
Danksagung
Wir danken der CoronAid Gruppe für Ihren Einsatz in der Organisation der studentischen Mithilfe an der Universität Witten Herdecke, insbesondere den Mitgliedern, die bei der bei der qualitativen und quantitativen Auswertung beteiligt waren: den Studierenden Anna di Bari, Oliver König und Alexander Lindeberg.
ORCIDs der Autor*innen
- Christian Scheffer: [0000-0003-0350-707X]
- Beate Stock-Schröer: [0009-0007-3537-3287]
- Arndt Büssing: [0000-0002-5025-7950]
Interessenkonflikt
Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
Literatur
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