[Akkreditierung und Qualifizierung von allgemeinmedizinischen Lehrpraxen in Deutschland – eine bundesweite Online-Befragung der universitären Standorte]
Sabine Gehrke-Beck 1,2Isabel Kitte 3
Irmgard Streitlein-Böhme 4,5
Tobias Deutsch 6
Iris Demmer 7
Maryna Gornostayeva 8
Ralf Jendyk 9,10
1 Charité – Universitätsmedizin Berlin, corporate member of Freie Universität Berlin and Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für Allgemeinmedizin, Berlin, Deutschland
2 Charité – Universitätsmedizin Berlin, Ambulantes Gesundheitszentrum AGZ, Berlin, Deutschland
3 Medizinische Hochschule Hannover, Institut für Allgemeinmedizin und Palliativmedizin, Hannover, Deutschland
4 Gesellschaft für Hochschullehre in der Allgemeinmedizin, Berlin, Deutschland
5 Ruhr-Universität Bochum, Medizinische Fakultät, Abteilung für Allgemeinmedizin, Bochum, Deutschland
6 Universität Leipzig, Medizinische Fakultät, Institut für Allgemeinmedizin, Leipzig, Deutschland
7 Universitätsmedizin Göttingen, Medizinisches Versorgungszentrum, Göttingen, Deutschland
8 Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg, Zentrum für Präventivmedizin und Digitale Gesundheit (CPD), Abteilung Allgemeinmedizin, Mannheim, Deutschland
9 Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM), Sektion Studium und Hochschule, Berlin, Deutschland
10 Universitätsmedizin Rostock, Institut für Allgemeinmedizin, Rostock, Deutschland
Zusammenfassung
Ziele: Erfassung der aktuellen Akkreditierungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für allgemeinmedizinische Lehrpraxen an den universitären Standorten in Deutschland.
Methoden: Bundesweite online Befragung der Lehrpraxenkoordinator:innen mit selbst entwickeltem Fragebogen, deskriptive Auswertung der quantitativen Angaben, qualitative Inhaltsanalyse von Freitextangaben.
Ergebnisse: 32 von 41 Standorte machten Angaben. An 29 Standorten wird eine strukturierte Akkreditierung durchgeführt, am häufigsten durch persönliche Praxisbesuche (n=22), alternativ durch Videocalls (n=10) oder Telefonate (n=9). An 18 Standorten existieren Qualifizierungsangebote für das Blockpraktikum (an 15 davon verpflichten), an 17 Standorten für das PJ (an 12 davon verpflichtend) und an 22 Standorten weitere ergänzende Angebote (an 8 davon verpflichtend). Formate und Dauer variieren. Inhaltlich werden organisatorische Informationen, angestrebte Lernziele und didaktische Methoden vermittelt.
Schlussfolgerung: An vielen Standorten werden strukturiert Akkreditierungs- und Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführt. Eine bundesweite Abstimmung der Lehrpraxenqualifizierung ist vorteilhaft, um standortübergreifende Qualifizierungsangebote zu ermöglichen.
Schlüsselwörter
klinische Lehre, Famulatur, Lehrbefähigung, Primärversorgung, medizinische Didaktik
Forschungsfrage
Wie werden allgemeinmedizinische Lehrpraxen in Deutschland für ihre Lehrtätigkeit akkreditiert und qualifiziert?
Einleitung
Die praktische Ausbildung Medizinstudierender findet im Fach Allgemeinmedizin in Deutschland in 1:1-Betreuung in hausärztlichen Praxen statt. Hierfür arbeiten die Universitätsstandorte mit Netzwerken sog. Akademischer Lehrpraxen Allgemeinmedizin zusammen. Es ist bekannt, dass hausärztliche Praktika das Interesse Studierender an einer Karriere in der Allgemeinmedizin positiv beeinflussen können, wobei auch die Qualität der Lehre von besonderer Bedeutung ist [1], [2]. In konsentierten Positionspapieren wurden Empfehlungen sowohl für die Akkreditierung als auch die didaktische Qualifizierung von Lehrpraxen gegeben [3], [4].
Die vorliegende Arbeit untersucht bundesweit den Stand der Umsetzung an den Universitätsstandorten im Jahr 2024. Die Ergebnisse dienen als Ausgangsbasis für eine neu gegründete Arbeitsgruppe der Gesellschaft für Hochschullehre in der Allgemeinmedizin (GHA) und der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM) mit dem Ziel der Weiterentwicklung der Akkreditierungs- und Qualifizierungsmaßnahmen.
Methoden
Es wurde eine Querschnittstudie mit einem selbst entwickelter Online-Fragebogen über SoSciSurvey [https://www.soscisurvey.de/] durchgeführt. Anzahl und Aufgaben der Lehrpraxen, Bedarf und Methoden der Rekrutierung neuer Lehrpraxen, Akkreditierungskriterien und -abläufe sowie Qualifizierungsangebote wurden mit geschlossenen Fragen und ergänzenden Freitextangaben erhoben. Die Befragung wurde am 23.10.2023 (Reminder am 9.1.2024) an die Arbeitsgruppen-Mitglieder und am 07.01.2024 (Reminder am 17.01.2024 an die GHA-Botschafter*innen der übrigen bundesweiten Standorte gesandt und konnte bis zum 15.02.2024 beantwortet werden. Es erfolgte eine deskriptive statistische Auswertung mittels SPSS und eine inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse [5] der Freitextangaben.
Ergebnisse
32 von 41 universitären Standorten nahmen an der Befragung teil. In die studentische Ausbildung sind zwischen 60 und 538 Lehrpraxen involviert (9 Standorte <150 Lehrpraxen, 14 Standorte 150-250 Lehrpraxen und 7>250 Lehrpraxen, 2 fehlende Angaben). Lehrpraxen bilden Studierende im Blockpraktikum Allgemeinmedizin (BP) (n=32, 1 fehlende Angabe) und im Praktischen Jahr (PJ) im Wahlfach Allgemeinmedizin (n=30, 2 Standorte führen in neuen Fakultäten noch kein PJ durch) aus. An 17 Standorten betreuen die Lehrpraxen Studierende in Wahlfächern, an 15 bei Hospitationen. An einzelnen Standorten unterrichten Lehrärzt*innen in lokalen Lehrprojekten oder Vorlesungen bzw. Seminaren.
Rekrutierung
Nach Einschätzung der Befragten sind an ihren Standorten zumeist ausreichend akkreditierte Lehrpraxen vorhanden, um die laut aktueller Approbationsordnung vorgesehene Studierendenausbildung im BP bzw. PJ zu gewährleisten (ausreichende Lehrpraxen an jeweils n= 31 Standorten). Neue Lehrpraxen werden über Informationsveranstaltungen (n=22 Standorte), die Homepage der Institute/Abteilungen (n=18) oder Briefsendungen (n=8) rekrutiert. Im Freitext wurden zusätzlich lokale Netzwerke (n=4), persönliche Ansprache (n=3), und Veranstaltungen (n=2) zur Rekrutierung genannt. Zwei Standorte erfragen aktiv Empfehlungen von Studierenden zu geeigneten Praxen.
Akkreditierung
An 29 Standorten ist ein standardisiertes Akkreditierungsvorgehen definiert. An 16 Standorten werden die Lehrpraxen anhand von GHA/DEGAM/GMA-Kriterien [4] akkreditiert. Die Akkreditierung erfolgt in Form von persönlichen Praxisbesuchen (n=22), Telefonaten (n=9) und/oder Videocalls (n=10).
Qualifizierungsangebote
Angebote zur BP-Qualifizierung gibt es an 18 Standorten, an 15 davon ist die Teilnahme verpflichtend. Ähnlich viele Angebot gibt es für die PJ-Qualifizierung (n=17), die etwas seltener verpflichtend sind (12 von 17). Ergänzende Angebote wie z.B. fortlaufende Lehrärzt*innentreffen bieten 22 Standorte an, nur an 8 davon ist die Teilnahme verpflichtend. Die Qualifizierungen werden in unterschiedlicher Länge und online, in Präsenz oder in beiden Varianten durchgeführt (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).
Tabelle 1: Lehr-/Kurs-/Trainingsgebote zur Qualifizierung von allgemeinmedizinischen Lehrärzt*innn den universitären Standorten
Tabelle 2 [Tab. 2] fasst die vermittelten Inhalte aus Freitextangaben zusammen. Dabei spielen organisatorische Aspekte – im PJ auch der rechtliche Rahmen-, Lernziele und didaktische Methoden für das Praxissetting eine Rolle. Zur PJ- Qualifizierung werden auch Prüferschulungen für das mündliche Staatsexamensprüfung (M3) angeboten. Ergänzende Angebote vermitteln darüber hinaus Didaktik zur Lehre außerhalb des Praxissettings.
Tabelle 2: Inhalte der Qualifizierungsveranstaltungen für allgemeinmedizinische Lehrärzt*innen aus Freitextangaben
Diskussion
Die Befragung zeigt, dass die meisten universitären Standorte ein strukturiertes Vorgehen zur Akkreditierung und Qualifizierung von Lehrpraxen durchführen. Vor der Formulierung des Positionspapiers war 2016 bereits erhoben worden, wie häufig eine Qualifizierung durchgeführt wird [3]. Damals nahmen 30 von 37 Standorten teil, 18 (davon 14 verpflichtend) führten eine BP-Qualifizierung durch, 15 eine PJ-Qualifizierung (davon 9 verpflichtend). Ein Zuwachs ist vor allem im Bereich der PJ-Qualifizierung zu sehen, möglicherweise in Vorbereitung auf ein Pflichtquartal Allgemeinmedizin das eine neue Approbationsordnung vorsehen würde. Die Dauer der aktuell durchgeführten Veranstaltungen ist zum größten Teil deutlich kürzer als im Positionspapier von 2020 [3] vorgesehen. Weiterhin führen 10 Standorte keine Qualifizierung durch. Persönliche Nachfragen ergaben vor allem personelle Ressourcen als Barriere zur Durchführung.
Trotz Heterogenität in Bezug auf die Durchführung finden sich bei der explorativen Erhebung der Inhalte standortübergreifend Überschneidungen, so dass die Arbeitsgruppe anstrebt, bundesweit ein Kerncurriculum für BP und PJ Qualifikationen zu konsentieren. Dies ermöglicht, standortübergreifend Qualifikationen anzubieten und anzuerkennen und so Standorte mit weniger personellen Ressourcen zu unterstützen.
Zur Qualifizierung von Lehrenden für die Begleitung von Studierenden in Blockpraktika anderer Fachbereiche liegen unseres Wissens nach keine strukturiert erfassten Daten vor. Es gibt es hier eher vereinzelte Angebote und kaum strukturierte und verpflichtende Angebote. Gezielte Qualifizierungsmaßnahmen für die Betreuung klinischer Praktika könnte auch in anderen Fächern die Qualität des Unterrichts fördern und wäre im stationären Setting möglicherweise sogar niedrigschwelliger umsetzbar, da Veranstaltungen am Arbeitsort und in der Arbeitszeit stattfinden könnten.
Zu den Limitationen der Befragung gehört zum einen, dass wir möglicherweise insbesondere Rückmeldungen aus Standorten mit einem strukturierten Vorgehen zur Akkreditierung und Qualifizierung von Lehrpraxen erhalten haben. Zum anderen wurde nicht detailliert erhoben, wie Akkreditierungskriterien festgestellt und überprüft wurden. Die Befragung umfasste lediglich die Maßnahmen zur Akkreditierung und Qualifizierung von Lehrpraxen. Zu einer umfassenden Qualitätssicherung gehören allerdings auch die regelmäßige Evaluation, ein strukturiertes Beschwerdemanagement und ein festgelegtes Vorgehen bei Vorfällen wie Diskriminierung oder Belästigung. Diese Aspekte sollten ergänzend erhoben und bundesweit konsentiert werden.
Schlussfolgerungen
Allgemeinmedizinische Lehrpraxen werden zum großen Teil strukturiert akkreditiert und Lehrärzt*innen werden an vielen Standorten – häufig verpflichtend- für die studentische Ausbildung qualifiziert. Eine bundesweite Abstimmung von Inhalten und Formaten kann standortübergreifende Angebote und Anerkennung ermöglichen und Ressourcen der einzelnen Standorte entlasten.
Anmerkungen
Ethikvotum und Datenschutz
Die Studie involvierte keine Patient*innen und Studierende. In der Befragung konnten Ansprechpartner*innen der jeweiligen Standorte freiwillig namentlich angegeben werden, im Übrigen wurden keine personenbezogenen Daten erfasst. Die Namen der Ansprechpartner*innen wurden nur zum internen Austausch der Arbeitsgruppe und der allgemeinmedizinischen Lehrverantwortlichen genutzt. Mit der Teilnahme wurden die Befragten über dieses Vorgehen informiert und nahmen freiwillig teil. In der Publikation werden keine personenbezogenen Daten genutzt, alle Daten und Informationen wurden zusammenfassend und nicht standortbezogen dargestellt. Alle befragten Standorte wurden über die geplante Veröffentlichung informiert. Ein Ethikvotum wurde, da keine Patient*innen, keine Studierenden involviert waren und keine personenbezogenen Daten für die Veröffentlichung verwendet wurden, nicht eingeholt.
ORCIDs der Autor*innen
- Sabine Gehrke-Beck: [0000-0002-6221-2813]
- Iris Demmer: [0000-0001-9652-9803]
- Ralf Jendyk: [0000-0002-2776-0515]
Danksagung
Wir danken allen GHA-Pat*innen und Lehrkoordinator*innen, die an der Befragung teilgenommen haben.
Interessenkonflikt
Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
Literatur
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[3] Filliettaz L, Garcia S, Zogmal M. Video-based interaction analysis: A research and training method to understand workplace learning and professional development. In: Goller M, Kyndt E, Paloniemi S, Damşa C, editors. Methods for researching professional learning and development: Challenges, applications and empirical illustrations. Cham: Springer International Publishing; 2022. p.419-440. DOI: 10.1007/978-3-031-08518-5_19
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